Hinkels Mord
Christina Bacher


ISBN 978-3-9544-1522-9

Als in ihrem Marburger Elternhaus eingebrochen und ihre Mutter schwer verletzt wird, muss Liva Lohrey gegen ihren Willen aus Köln in ihre alte Heimat zurückkehren. Alles hier erinnert sie an ihren Bruder Alex, der drei Jahre zuvor unter rätselhaften Umständen verschwand. 

Wie sich herausstellt, hatte sich Alex als Geschichtsstudent kurz zuvor mit einem historischen Mordfall beschäftigt, der sich 1861 am oberen Dammelsberg zugetragen hat: Der Schuhmacher Ludwig Hilberg hatte damals die Tagelöhnerin Dorothea Wiegand – das „Hinkel“ – unter einer großen Eiche grausam ermordet. Der Fall wurde restlos aufgeklärt, der Mörder verurteilt und hingerichtet. Und doch scheint Alex etwas herausgefunden zu haben, das ihn veranlasste, die Nachfahren aller damals Beteiligten aufzusuchen. 

Nicht nur Livas schwesterliche Fürsorge, sondern auch ihre journalistische Neugier ist geweckt, und sie rollt die Ermittlungen um das Verschwinden ihres Bruders neu auf. Die Spur führt sie in die eigene dunkle Familiengeschichte …

Christina Bacher

Christina Bacher

ist nach Lehr- und Wanderjahren in Kaiserlautern, Marburg, Bonn, Prag, und Montpellier in Köln gelandet. Als Journalistin und Autorin betreibt sie seither „Bachers Büro“, eine Schmiede für Texte aller Art. Bekannt geworden ist sie u.a. durch ihre 7-bändige Kinder- und Jugendkrimireihe „Bolle und die Bolzplatzbande“, die zunächst als Ratekrimis auf hr2 gesendet wurden und mit der sie seit Jahren europaweit auf Lesereise geht. Im Jahr 2016 fungierte sie zudem als Herausgeberin der CRIMINALE-Anthologie SOKO MARBURG-BIEDENKOPF, die im KBV-Verlag erschienen ist. Mit "Hinkels Mord" (kbv Verlag) legte sie 2020 ein erfolgreiches Debut im Erwachsenenkrimigenre vor.

Als Stipendiatin von "Tatort Töwerland" und des Skriptorium-Stipendiums des Kölner Kulturamts hat sie 2020 eine besondere Auszeichnung von der Kunststiftung NRW erhalten für ihre Buch-Idee, Obdachlosen im Lockdown eine Stimme zu geben. Das Buch "Die Letzten hier?" erscheint im Herbst 2021 im Daedalus Verlag. 

Rezensionen

„Ein spannender Krimi, der die Vergangenheit kunstvoll mit der Gegenwart verstrickt“.

Hilde Regeniter/Domradio 

"Tipp: Das kenntnisreich geschriebene und spannende Buch selber lesen!" 

Heike Döhn, Hinterländer Anzeiger

Ein Interview mit der Autorin

Wo schreibst du am liebsten?

Am liebsten schreibe ich im Kölner Schreibraum oder im Zug. 

Welches ist dein Lieblingskrimi?

Durch meine Juryarbeit für den Kinder- und Jugendglauser habe ich vor allem dieses Genre (wieder)entdeckt. Besonders gut gefallen hat mir beispielsweise von Christian Linker „Der Schuss“ oder auch von Wulf Dorn „21 – Dunkle Begleiter“. 

Dein Lieblingskollege/Lieblingskollegin?

Das wäre jetzt ungerecht, nur den einen oder die andere rauszunehmen. Aber während der Criminale teile ich mir traditionell das Zimmer mit Nadine Buranaseda, die ich sehr schätze. Als Kollegin, Freundin und Ratgeberin.

Warum bist du im SYNDIKAT?

Ich liebe es, zu netzwerken. Wie einsam wäre unser Beruf ohne Kolleg*innen. Und ich mag es, dass sich alle jedes Jahr auf der Criminale treffen, um sich auszutauschen, fortzubilden und eine neue Stadt zu erobern. 

Dein Lieblingswort?

Lameng.

Dein Sehnsuchtsort?

Juist. 

Dein Lieblingsgetränk?

Gin Tonic.

Dein Lieblingsmord?

Der auf leisen Pfoten.

Wo findest du Ruhe?

Sicher mal auf dem Kölner Nordfriedhof. 

Wo Aufregung?

Täglich und überall. 

Deine persönlich meist gehasste Frage?

Bist du reich?

Leseprobe

In unmittelbarer Nähe von Marburg, westlich vom malerisch gelegenen Schlosse, erhebt sich eine mit herrlichen Eichen bewachsene Kuppe, der Dammelsberg. Es ist ein wunderbares Stückchen Erde, ein Lieblingsort der Bewohner Marburgs. Könnten sie uns erzählen, die rauschenden Blätterkronen, viel würden sie uns erzählen von Freud und Last, die sie geschaut, von frohen Liedern, die sie vernommen. Und doch! Auch ein dunkle, furchtbare That ist hier geschehen, mitten auf einem der das Revier durchziehenden Pfade, nicht fern vom Saume des Waldes – ein Mord“. Didaskalia vom 15. Juni 1864

 

  1. September 1861, Dammelsberg, Dorothea Wiegand 

Immer weiter den steilen Berg hinauf. Trotz der ungewöhnlichen Hitze, dem Hinkefuß und dem dicken Bauch konnte es ihr heute nicht schnell genug gehen. Gleich würde sie ihm wieder nahe sein. Seine Küsse erwidern, ihn wild machen, sich liebkosen lassen. Und – ja, vor allem das! – endlich in Ruhe über die Hochzeit reden. Die immer dringlicher wurde, je schneller das Kind in ihr wuchs. Deswegen hatte sie sich heute besonders hübsch gemacht. Mit neuen Mützenbändern, die sie voller Liebe angenäht hatte. Gekauft von den vier Talern, die er ihr einst zugesteckt hatte. 

Liebe. War es das, was sie in diesen frühen Morgenstunden den Dammelsberg hinauftrieb? Oder eher die Angst, dass der Ludwig doch nicht zu ihr stand? 

Mit einem unehelichen Kind konnte sie nirgendwo mehr eine Stelle bekommen. Kein Haus würde sie beschäftigen wollen. Und ohne Arbeit, kein Lohn und keine Bleibe. Und doch hatte sie es, wenn sie ehrlich war, auch ein bisschen darauf angelegt. Denn jetzt musste er der Hochzeit zustimmen, un- benommen, was die Alte sagte. Diese zänkische, böse Frau. »Hinkel«, hatte sie ihr abfällig nachgerufen, »mach, dass du mir aus den Augen kommst!« Genauso hatten sie die Kinder früher in der Schule gerufen. Nicht nur wegen des Hinkebeinssondern weil alle sie schon immer für dumm hielten. Dabei war sie alles andere als ein Hohlkopf. Sie würde es den Ockershäusern noch zeigen, die sie ablehnten, seit sie am 6. August 1837 ihren ersten Schrei getan und ihre unverheiratete Mutter in Misskredit gebracht hatte. 

Sie hatte sich vorgenommen, das Herz des Schuhmachers Hilberg zu erobern und sich als Ehefrau im Hettche-Haus einzunisten – dort, wo er schon immer mit der Mutter lebte. Immerhin: Sie, Dorothea Wiegand, trug sein Kind unter dem Herzen. So würde er sie zur Frau nehmen müssen

Und schlau hatte sie das eingefädelt, als sie im April ihre Arbeit dort aufgenommen und ihm schöne Augen gemacht hatte. Sobald die Mutter morgens aus dem Haus gewesen war, hatte Ludwig mit ihr gescherzt. Dieser schöne Mann mit dem dichten, schwarzen Haar und dem festen Griff. Es schauderte sie jetzt noch, wenn sie daran dachte, wie er sie an sich gedrückt hatte. Bald. Bald würde es wieder so sein wie im Frühjahr. Nur dann offiziell als Mann und Frau. Ob sie heute endlich den Heiratsantrag bekommen würde, auf den sie seit Wochen wartete? Sie wusste, dass auch er viel für sie empfand. Hätte er sie sonst heute an einen so roman- tischen Ort gelockt? Mitten in den Wald, wo nur ab und zu ein Forstläufer vorbeikam oder ein Student auf dem Weg zum Festplatz? Er hatte einen feinen Sinn für so was, der Ludwig. Er würde den Antrag dem Anlass gebührend feierlich gestalten. 

Schnell, voran, es musste schon acht Uhr durch sein, so hoch wie die Sonne stand. Und sie würde es sich nie verzeihen, zu ihrem Antrag zu spät zu kommen. Seit sie dem Ludwig heute Morgen in der Frühe gesehen hatte, schlug ihr Herz kräftig. Gleich nach dem Aufwachen war sie zum ihm gelaufen, um ihre Schuhe zum Beschlagen zu bringen. Das war nur ein Vorwand gewesen, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn wiederzusehen. Wie gestern schon, als er nicht zu Hause gewesen war und sie ihn zufällig auf der Barfüßer Straße mit dieser Regine Dörr gesehen hatte, die ihr hinterhergespuckt hatte. Und vorgestern, als er die Tür nicht geöffnet hatte, obwohl er ganz offensichtlich zu Hause gewesen war. Seit dem 22. August wusste er von dem Kind und hatte sich seither nicht freudig geäußert. Das tat weh. Das gab einen Stich ins Herz. Selbst als sie mit hohem Fieber im Landeskrankenhaus gelegen hatte, war er nicht vorstellig geworden. Dabei hatte er sich doch sicher auch nach ihr verzehrt. Ob er Angst vor dem Gerede der Leute hatte? Oder vor dem Groll der Mutter? Oder gab es die Verlobung wirklich, von der alle redeten? Mit dieser Regine aus Bauerbach. Dann war Eile geboten. Von wegen Hinkel. Sie, die Dorothea, fand immer Mittel und Wege, ans Ziel zu kommen. Ihr Bauch war schon stattlich, der Arzt hatte ihr bestätigt, dass sie bereits in der 20. Woche sei. Das Kind würde in weniger als fünf Monaten zur Welt kommen. Ludwig hatte die Wöl- bung nur entsetzt angestarrt. Dann aber das Treffen oben am Dammelsberg unter der großen Eiche vorgeschlagen. 

Kurz blieb sie stehen, um Luft zu holen. Ehrfürchtig befühlte sie den Elisabeth-Taler, den sie an einer silbernen Kette um den Hals trug. Unter heißen Liebesschwüren hatte er ihr die Kette umgelegt. Und sie angefleht, das Kind wegmachen zu lassen. Darauf war sie nicht eingegangen, das Medaillon hatte sie aber natürlich behalten. Es zeigte die Heilige Elisabeth mit Krone, Heiligenschein und dem Modell einer Kirche in der rechten Hand. Es war das Einzige von Wert, das sie besaß und jemals besessen hatte, und sie würde es ihrem Kind irgendwann mal vererben. So würde es beschützt sein ein Leben lang. 

Ludwig. Endlich wollte er sie alleine sehen. Unter vier Augen. Wie früher. Deutlicher konnte man nicht sagen, dass man sich sehnte. Oder?